Dienstag, 13. September 2016

Zurück in Rio

links: Isabella
12 Stunden Flug in einer alten Maschine mit nur 3 Filmen im Programm fühlten sich unwahrscheinlich lange an. Zum Glück war die Maschine nicht voll und so hatte ich Platz zum Arbeiten und konnte, Dank meines ausdauernden Laptops einiges was liegen geblieben war, erledigen. Am Flughafen sah ich zuerst ein bekanntes Gesicht. Isabella, eine Freiwillige die schon während der Spiele für den internationalen Kanuverband zuständig war, holte mich ab. Da ich alleine mit ihr im Auto war, blieb jede Menge Zeit zum schwatzen.

Isabella ist 26 Jahre und hat bereits 2 Masterstudienabschlüsse. Sie hat sowohl Tourismuswirtschaft wie auch Betriebswirtschaft studiert. Nicht nur in Brasilien hat sie studiert, sondern auch ein Jahr in Amerika und zwei Jahre in Russland. Sie kann Englisch und Russisch fließend und hat einen Schweizer Freund, mit dem sie momentan auch Deutsch lernt. Auf die Frage wie sie dies alles finanziert hat und ob sie reiche Eltern hat meinte sie, dass sie während der Auslandsstudienaufenthalte immer auch gearbeitet hat und ihre Familie nicht sehr reich ist. Dabei lobte sie die Entwicklung des Bildungssystems in Brasilien in den letzten Jahren, dass es auch Kindern aus der Mittelschicht ermöglichte, eine ordentliche Ausbildung unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern zu erhalten. Schulgeld und Geld für Universitäten ist wohl in Brasilien kein Thema mehr und wer will, kann schon eine ordentliche Ausbildung erhalten. Darauf angesprochen, was sie nach den Spielen machen wird und ob sie schon eine Arbeitsstelle in Aussicht hat, wurde sie deutlich trauriger. Zwar hat sie wirklich ordentliche Abschlüsse aber es gibt momentan keine entsprechenden Arbeitsstellen in Brasilien. Zwar könnte sie mit ihren Fremdsprachenkenntnissen in Hotels an der Rezeption anfangen oder in Restaurants mit vielen ausländischen Besuchern als Kellner arbeiten, aber sonst gibt es kaum Jobangebote für junge und gut ausgebildete Leute im eigenen Land. Da aber Brasilianer überall in der Welt beliebt sind, so zumindest ihre Aussage, zieht es sie wahrscheinlich nach Amerika.cDort ist sie zuversichtlich, einen Job zu finden. Überhaupt kann man feststellen, dass die meisten Cariocas über 30 überhaupt kein Englisch können und immer mehr unter 30 häufig perfekt Fremdsprachen sprechen. Viele der jungen Leute gehen ins Ausland und kommen auch nicht wieder zurück. Eigentlich schade für ein Land,  was solche Sprünge bei der Bildung gemacht hat.

Schon auf der Fahrt vom Flughafen fühlte sich die Atmosphäre in Rio komplett anders als noch bei den Olympischen Spielen an. Es war kaum Militär im Stadtgebiet zu sehen und selbst die Polizei hatte doch tatsächlich manchmal das Blaulicht aus. Überhaupt schien alles lockerer zu sein. Die Taxifahrer hatten nicht nur ihre Preise halbiert, sondern sind deutlich freundlicher. Auffallend ist auch das Fehlen der Fahrzeugkolonnen mit den dicken schwarzen Limousinen und der Polizeibegleitung im Straßenverkehr. Weder gestern noch heute habe ich so eine Kolonne gesehen, was es insgesamt im Verkehr einfacher macht.

Olympia war gut und Paralympics sind gut und jeweils ein erhobener Daumen war jetzt meine Übersetzung der portugiesischen Konversation mit den Taxifahrern. Ich glaube viele sind stolz, die Olympischen Spiele so gut in ihrer Stadt über die Bühne gebracht zu haben und haben jetzt eine wirklich emotionale Beziehung zu den Paralympics entwickelt. Die U-Bahn war heute genauso voll wie zu den Olympischen Spielen nur mit dem Unterschied, dass wenige ausländische Gäste im Zug waren dafür aber wahnsinnig viele Einheimische. Da die Linie 4 zum Olympiapark nach wie vor nur von Ticketinhabern genutzt werden kann, scheint es sich zu bestätigen, dass sich viele Einheimische  die Wettbewerbe der Paralympics anschauen. Zurück zu Isabella, sie hat mir erzählt, dass sich ihre Familie keine Karten für die Olympischen Spiele leisten konnte aber jetzt zugeschlagen hat. Geschwister, Onkel und Tanten, Neffen und Nichten haben für die ganze Woche Karten und wollen in die Stadien. Bei Preisen von 2,50 € auch für die Mittelschicht machbar. Die Zeitungen haben gestern hier ganz groß mit einem neuem Zuschauerrekord am ersten Wochenende der Paralympics. aufgemacht. Mehr als 300.000 Zuschauer haben den Paralympischen Park besucht, mehr als an jedem Tag der Olympischen Spiele. Ich bin gespannt, wie das morgen bei uns auf den Tribünen an der Regattastrecke aussehen wird.

Es waren heute früh auch deutlich mehr Einheimische an der Copacabana joggen. Vielleicht waren während der olympischen Spiele viele im Urlaub und sind erst jetzt zurück oder die Brasilianer machen jetzt Urlaub in Rio. Es war auf jeden Fall sehr voll und ich habe die Copa fast nicht wieder erkannt. Die Tribünen für die Veranstaltungen direkt an der Straße (Radsport/Triathlon) waren schon abgebaut. Auch vom Beachvolleyballstadion waren nur noch Gerüste übrig. Es kommt mir vor als ob die Stadt langsam zum Alltag zurückfindet. Neu war für mich auch, dass links und rechts neben den Resten des Beachstadiums am Strand überall Sport getrieben wurde. Es scheint, dass die Fitnessstudios an den Strand gezogen sind und tatsächlich Hunderte dort ihre Übungen im Freien machten. Manchmal sah man einen Trainer mit 3 oder 4 Fitnessfreaks. An anderen Stellen waren ganze Übungsparcours am Strand aufgebaut. Die Cariocas sind schon ein sehr sportliches Volk (auch wenn man es ihnen nicht immer ansieht - aber darüber habe ich mich ja schon ausgelassen). Mir ist beim letzten Mal auch gar nicht aufgefallen, dass alle 200 m am Rand der Copa eine öffentliche Fitnessanlage steht. Nicht größer wie eine Bushaltestelle kann man dort vom Klimmzug bis zum Rumpfbeugen alles machen. Alle Übungsgeräte waren früh um 6.30 Uhr voll mit Einheimischen. Ich würde mir wünschen, dass auch in Deutschland so viele Menschen Sport treiben und sich nicht mit ihrem Gewicht oder anderen Gründen herausreden. Dann hätten wir es in den Sportvereinen auch leichter mehr Kinder für Sporttreiben zu begeistern. Aber vielleicht nimmt tatsächlich mit dem Reichtum einer Gesellschaft die Lust am Sporttreiben ab.

Der riesengroße Verkaufsshop an der Copa steht noch und wird offensichtlich super frequentiert. Man sieht im Straßenbild auch kaum noch Menschen mit Olympiashirts, aber sehr sehr viele und vor allem Einheimische, mit Paralympic Shirts. Was man bei den Olympischen Spielen manchmal bezweifeln musste ist jetzt Realität, die Paralympischen Spiele sind in den Herzen der Einheimischen angekommen.  

Natürlich führte mich mein erster Weg an die Regattastrecke zu unserem deutschen Team. Sie waren gerade dabei, die gestern installierte Startanlage auszuprobieren. Und schon von Weitem sah ich die Angst in den Augen unserer Mädchen. Es herrschte ein starker Rückenwind und am 200 m Start gab es Wellen, nicht nur von hinten. Kaum einer der Damen schaffte es, gerade in den Startschuh zu fahren. Unsere Damen sind sehr leicht und kaum waren sie im Startschuh, lagen sie auch schon wieder quer. Selbst unsere beiden Männer Ivo und Tom hatten ihre Schwierigkeiten mit den Bedingungen. Die gute Nachricht ist aber, dass es morgen weniger Wind werden soll. Anke hatte die meisten Probleme, aber auch Edina muss sich wohl beim Start umstellen. Allerdings waren sich alle beim Mittagessen einig, dass alle Sportler die gleichen Bedingungen haben und mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein die Finals für alle möglich sind. Alle vier Sportler fiebern dem morgigen Wettkampftag entgegen. Es war unwahrscheinlich schwer über die relativ lange Zeit hier vor Ort fokussiert zu bleiben. Aber alle waren laut Aussagen der Trainer sehr brav und haben nur trainiert und die Zeit im paralympischen Dorf verbracht. Muss man wahrscheinlich auch sagen wenn der Präsident kommt - aber natürlich glaube ich das unseren Trainern.
Ein großes Lob an dieser Stelle an unser Betreuerteam. Paras brauchen mehr Hilfe wie Nichtbehinderte und so haben wir fast eine eins zu eins Betreuung vor Ort. Sandra Müller ist die Teilmannschaftsleiterin, Atze Hausmann der Disziplintrainer und Trainer von Tom Kirey und Matthias Neubert ist als Physiso nicht nur für unser Team, sondern auch für Sportler aus anderen Teilmannschaften mit verantwortlich und gleichzeitig als erfahrener Paddler auch der Mann für die besonderen Aufgaben. So musste er heute bei dem Sturm neben den Mädchen herfahren und die Strategie beim Start besprechen. Dass ist alles von unserem Team schon sehr professionell organisiert und dementsprechend ist auch die Stimmung angespannt aber gut. Es gab auch auf mehrere Nachfragen keine Klagen. Alle sind wirklich rundum mit den Bedingungen zufrieden. Gestern sind die Mädchen und Ivo aus dem Dorf in ein Hotel nahe der Strecke umgezogen, um sich früh den Fahrweg von mindestenes einer, manchmal aber auch zwei Stunden zu sparen. Das macht Sinn, da die Rennen bei uns immer um 9.00 Uhr beginnen und die Sportler 2 Stunden früher da sein müssen. Tom Kirey wollte sich seinen gewöhnten Ablauf nicht durcheinanderbringen lassen und ist mit seinem Trainer im Dorf geblieben.

Jetzt geht es gleich ins Deutsche Haus. Dort empfängt heute der Botschafter das deutsche Paralympics Team. Da unsere Sportler aber morgen ihre Vorläufe haben, darf ich unseren Verband vertreten. Es gibt schlimmere Aufgaben. Das Gute ist übrigens, dass man sich um Kleidung keine Sorgen machen muss. Der Trainingsanzug sollte auch in Deutschland zur Pflichtkleidung von Funktionären werden. Ich fühle mich im Trainingsanzug eh am wohlsten.

Jetzt noch 2 PS:
PS 1: Ich stelle meinen Blog abends nach Rio Zeit ins Netz und die Geschäftsstelle fügt dann morgens Fotos, die ich über den Tag per Watts App geschickt habe ein. Ich bin zu doof, dies hier von Rio aus direkt zu machen. Also wer heute Abend noch liest, und Isabella und die Fitnessfreaks am Strand sehen will, sollte sich auf jeden Fall auch nochmals Morgen früh den Blog dann mit Fotos ansehen.  

PS 2: Ich war gerade am Strand schwimmen. Als ich aus dem Wasser kam habe ich die in einem vorigen Abschnitt für ihr fokussierte Arbeitsweise gelobten männlichen Offiziellen unseres Teams verfolgt von Capirinha Verkäufern und mit zwei zumindest halben Liter Plastebechern Capirinha in der Hand gesehen. Die Welt ist klein und nichts bleibt unentdeckt. Sie haben mir aber "glaubhaft" versichert, dass dieses Ritual zur Vorbereitung dazugehört